Nach dem zweiten Weltkrieg hat sich, ausgehend von Deutschland, eine neue politische Praxis der Schuldbekenntnisse und Wiedergutmachung für staatlich organisierte Verbrechen entwickelt, die bald auch von anderen Staaten übernommen wurde und verschiedene Phasen durchlief. Ursprünglich auf die Opfer politischer Verbrechen bezogen, wird diese Praxis seit den achtziger Jahren auch zunehmend auf die Nachkommen der Täter und Opfer historischer Verbrechen und Ungerechtigkeiten wie kolonialer Unterdrückung, Sklaverei und Segregation (colonial guilt, white guilt) ausgedehnt. In der Vorlesung wird untersucht, wie sich das in diesen Praktiken implizierte Verständnis von Verantwortung und Schuld zu den klassischen moralischen und rechtlichen Kategorien individueller Schuld und zu den psychologischen und sozialen Wurzeln von Schuldgefühlen verhält. Es werden Fragen erörtert wie: Welche Verantwortung tragen gegenwärtige Generationen für die Vergangenheit und die Zukunft? Was ist eigentlich unter Schuld zu verstehen und welche Funktionen haben Schuldzuschreibungen? Wie ist politische von krimineller und moralischer Schuld zu unterscheiden? Gibt es so etwas wie „metaphysische“ Schuld und „moralische Befleckung“ durch die Taten anderer? Kann man vergangene Praktiken zu Unrecht erklären, wenn sie von den damaligen Menschen nicht so betrachtet werden? Kann man Schuld und Verantwortung stellvertretend für andere übernehmen? Kann man kulturübergreifend von Schuld und Verantwortung sprechen? Ist es überhaupt sinnvoll, die Verantwortung für die Beseitigung der moralischen Lasten historischer Verbrechen einzelnen Gruppen aufzubürden, die schuldig erklärt werden, oder sollten wir sie in gewissen Fällen eher mit Iris Young als eine von allen geteilte Verantwortung für strukturelle Ungerechtigkeiten begreifen, die historische Wurzeln haben?

Zusätzlich zur Vorlesung stehen Texte für die Sitzungen bereit. CP`s können durch vorbereitende Essays zu diesen Texten oder eine Klausur in der letzten Sitzung erworben werden.


Semester: WT 2024/25