Lektion 17.4. Langzeitverhalten

Da wir nun wissen, wie die Lösungen linearer Differentialgleichungen prinzipiell aussehen, können wir sogar in manchen Fällen das Langzeitverhalten beschreiben, ohne die Lösungen wirklich explizit auszurechnen. Wir wollen uns in diesem Abschnitt klarmachen, warum es für das Verhalten der Lösungen eines System

\(\vec{x}’(t)=A\vec{x}(t)\)

für \(t\to \infty \) in erster Linie darauf ankommt, ob die Eigenwerte von \(A\) alle in der linken komplexen Halbbene \(\{ z\in \mathbb {C};\;\mathrm{Re}\, z<0\} \) liegen oder nicht.

Satz:

Falls alle Eigenwerte der \(n\times n\)-Matrix negativen Realteil haben, dann gilt für alle Lösungen der Differentialgleichung \(\vec{x}’(t) =A\vec{x}(t)\):

\( \lim\limits_{t\to\infty}|\vec{x}(t)|=0.\)

Begründung: Wir betrachten zunächst den Fall, dass alle Eigenwerte \(\lambda _1,\ldots ,\lambda _n\) von \(A\) einfach sind und \(\vec{v}_1,\ldots ,\vec{v}_n\) zugehörige Eigenvektoren sind. Dann ist jede Lösung der Differentialgleichung von der Form

\(\vec{x}(t)=C_1e^{\lambda_1t}\vec{v}_1+\ldots+C_ne^{\lambda_n t}\vec{v}_n\)

mit Konstanten \(C_1,\ldots , C_n\), die im allgemeinen auch komplex sein können, weil ja auch komplexe Eigenwerte auftreten können. Da

\(|e^{\lambda_jt}|=|e^{(\mathrm{Re}\,\lambda_j+i\mathrm{Im}\,\lambda_j)t}|=|e^{\mathrm{Re}, \lambda_jt}|\cdot \underbrace{|e^{i\mathrm{Im}\,\lambda_jt}|}_{=1}=e^{\mathrm{Re}\,\lambda_jt}\to 0 \)

für \(t\to \infty \) konvergiert jeder Term \(C_ j e^{\lambda _ j t}\vec{v}_ j\) betragsmäßig gegen Null. Damit strebt auch die Summe gegen Null.

Im allgemeinen Fall mit mehrfachen Eigenwerten ist jede Lösung der Differentialgleichung in jeder Komponente eine Summe von Funktionen der Form \(p(t)\cdot e^{\lambda _ j t}\), wobei \(p\) ein Polynom ist und \(\lambda_ j\) einer der Eigenwerte von \(A\). Für das Verhalten im Fall \(t\to \infty \) ist das Verhalten der Exponentialfunktion ausschlaggebend. Wenn hier immer \(\mathrm{Re}\, \lambda _ j<0\) ist, dann klingen alle Exponentialfunktionen, die vorkommen, für \(t\to \infty\) ab und auch die gesamte Lösung konvergiert gegen Null. ❑

Beispiel

Fügt man der Gleichung des harmonischen Oszillators \(x”(t)+\omega ^2 x(t)=0\) einen Term \(\gamma x’(t)\) mit \(\gamma >0\) hinzu, der die (geschwindigkeitsabhängige) Reibung modelliert, dann sind die Lösungen dieser neuen Differentialgleichung

\(x”(t)+\gamma x’(t)+\omega ^2x(t)=0\)

typischerweise von der Form

$x(t)=C_1e^{\lambda _1t}+C_2e^{\lambda _2t}$

wobei $\lambda _{1,2}$ die Lösungen der charakteristischen Gleichung

$\lambda ^2+\gamma\lambda +\omega ^2=0$

sind, also

\(\lambda _{1,2}=\displaystyle\frac{-\gamma\pm\sqrt{\gamma^2-4\gamma\omega ^2}}{2}\)

Falls $\gamma ^2-4\gamma \omega ^2<0$ ist, sind $\lambda _1$ und $\lambda _2$ beide komplex mit negativem Realteil und die Lösungen klingen wie im Bild oszillatorisch ab.

Figures/pendel_gedaempft


Falls \(\gamma ^2-4\gamma \omega ^2 > 0\) ist, dann ist \(\sqrt {\gamma ^2-4\gamma \omega ^2}<|\gamma |\) und beide Lösungen \(\lambda _{1,2}\) sind reell und negativ. Auch in diesem Fall klingen die Lösungen der Differentialgleichung als ab.

Anregung:

Vervollständigen Sie die Diskussion, indem Sie noch den Fall $\gamma ^2-4\gamma \omega ^2=0$ untersuchen, bei dem der Lösungsansatz $x(t)=C_1 e^{\lambda _1 t} + C_2 e^{\lambda _2 t}$ modifiziert werden muss.