Baumdiagramme, Pfadregeln und der Satz der totalen Wahrscheinlichkeit

In dieser interaktiven Anwendung wollen wir die 1. und 2. Pfadregel in Baumdiagrammen sowie den Satz der totalen Wahrscheinlichkeit betrachten und wiederholen.

Die 1. Pfadregel und der Produktsatz

Die obige Abbildung zeigt das Baumdiagramm für zweimaliges Ziehen einer Kugel ohne Zurücklegen aus einer Urne mit 4 roten, 3 schwarzen und einer grünen Kugel. Dabei bedeutet zum Beispiel $$R_i:=\text{"Rot beim i-ten Zug"}$$ Über den Ergebnissen der jeweiligen Stufe sind die Ereignisse notiert, zu denen der Pfad bis dahin führt. Die Wahrscheinlichkeiten auf den Ästen entpuppen sich nach dem, was wir gerade gelernt haben, als bedingte Wahrscheinlichkeiten über \(\Omega\). So gilt zum Beispiel für die Wahrscheinlichkeit, beim 2. Zug eine rote Kugel zu ziehen, falls der 1. Zug eine rote Kugel ergab \(P_{R_1}(R_2)=\frac{3}{7}\). Eine kurze Bemerkung zur Notation: Wir schreiben \(P_B(A)\) für die Wahrscheinlichkeit von \(A\) unter der Bedingung \(B\), was in vielen Lehrbüchern auch alternativ als \(P(A|B)\) notiert wird.

Beobachtungsauftrag
  1. Im obigen Baumdiagramm sind die zugehörigen Wahrscheinlichkeiten in der linken oberen Ecke noch nicht zu den jeweiligen Ästen zugeordnet. Verschieben Sie die Wahrscheinlichkeiten an die korrekten Äste und beschriften Sie so das Baumdiagramm vollständig.
  2. In der unteren rechten Ecke der obigen Abbildung sind die zugehörigen Bezeichnungen für die Und-Ereignisse jeweils eine bestimmte Kugel im ersten und eine bestimmte Kugel im zweiten Zug zu ziehen. Diese müssen noch unterhalb des Baumdiagramms an die jeweiligen Pfade angebracht werden. Beschriften Sie die 8 Pfade des Baumdiagramms jeweils mit den korrekten Bezeichnungen.
Eine Lösung können Sie sich hier anzeigen lassen:

Die sogenannte 1. Pfadregel liefert uns nun den Zusammenhang zwischen der Und-Wahrscheinlichkeit \(P(R_1 \cap R_2)\) und den Wahrscheinlichkeiten \(P(R_1)\) und \(P_{R_1}(R_2)\): $$ P(R_1 \cap R_2) = P(R_1)\cdot P_{R_1}(R_2)$$ Die 1. Pfadregel ergibt sich unmittelbar aus der Definition der bedingten Wahrscheinlichkeit. Man braucht nämlich die Definition $$P_{R_1}(R_2) = \frac{P(R_1 \cap R_2)}{P(R_1)} $$ nur nach \(P(R_1 \cap R_2)\) umstellen. Allgemein gilt damit der folgende Produktsatz:

Produktsatz
Ist \(P(A) \neq 0\), so gilt \(P(A \cap B) = P(A)\cdot P_{A}(B)\).

Der Produktsatz ist die wichtigste Anwendung der bedingten Wahrscheinlichkeit. Oft sind nämlich \(P(A)\) und \(P_A(B)\) bekannt, und \(P(A\cap B)\) wird gesucht. Die 1. Pfadregel für längere Pfade liefert uns auch gleich Formeln für die Wahrscheinlichkeiten mehrfacher Und-Ereignisse. So gilt zum Beispiel für 3 Ereignisse ein Produktsatz der Form $$ P(A\cap B \cap C) = P(A)\cdot P_A(B)\cdot P_{A \cap B}(C)$$ falls \(P(A\cap B)\neq 0\) ist. Anhand eines Baumdiagramms können wir uns diesen wiederum klar machen: Die unten stehende Abbildung zeigt jeweils, wie die Wahrscheinlichkeit \(P(A\cap B)\) von \(P(A)\) und \(P_A(B)\) abhängt, und wie die Wahrscheinlichkeit \(P(A\cap B \cap C)\) entsprechend von \(P(A)\), \(P_A(B)\) und \(P_{A\cap B}(C)\) abhängt.

Die Produktsätze sind nichts anderes als ein algebraischer Ausdruck der 1. Pfadregel. Da zu ihrem Beweis lediglich die Eigenschaften der Wahrscheinlichkeitsverteilung \(P\) und die Definition der bedingten Wahrscheinlichkeit benötigt werden, ist damit also die Verwendung der 1. Pfadregel gerechtfertigt. Abraham de Moivre (1667-1754) formulierte diese Produktsätze 1738 in der 2. Auflage seiner Doctrine of Chances.

Die 2. Pfadregel und der Satz von der totalen Wahrscheinlichkeit

Satz von der totalen Wahrscheinlichkeit
Bilden die Ereignisse \(A_1,A_2,...,A_n\) mit \(P(A_i)\neq 0\) für alle \(i\) eine Zerlegung des Ergebnisraumes \(\Omega\), so gilt für die Wahrscheinlichkeit eines beliebigen Ereignisses \(B\): $$P(B)=\sum_{i=1}^n P(A_i)\cdot P_{A_i}(B)$$

Die Gültigkeit des Satzes der totalen Wahrscheinlichkeit folgt daraus, dass die \(A_i\) eine Zerlegung von \(\Omega\) bilden, und die Ereignisse \(B\cap A_i\) somit paarweise unvereinbar (also disjunkt) sind. Dies können wir uns mit Hilfe der Abbildung veranschaulichen: \(\Omega\) ist dargestellt als das schwarze Quadrat, und die Menge \(B\) als der blaue Kreis in \(\Omega\). Die einzelnen Mengen \(A_1,...,A_n\) sind dargestellt als die farbigen Mengen daneben.

Beobachtungsauftrag
  1. Ziehen Sie nun die einzelnen Elemente so in den Grundraum \(\Omega\) hinein, dass dieser vollständig überdeckt wird. Wenn Sie auf einen blauen Punkt klicken, können Sie Elemente bewegen, durch klicken auf ein blaues Kreuz können Sie ein Element drehen. Tipp: Sie müssen mehrere \(A_i\) zunächst drehen.
  2. Machen Sie sich klar, dass die \(A_1,...,A_n\) tatsächlich eine Partition von \(\Omega\) bilden.
  3. Verdeutlichen Sie sich dann, dass die einzelnen Schnitte \(A_i \cap B\) für \(i=1,...,n\) tatsächlich disjunkt sind.

Eine Lösung können Sie sehen, wenn Sie auf den folgenden Button klicken (wenn Sie vorab Elemente verschoben haben, müssen Sie die Seite neu laden): Lösung anzeigen

Nachdem wir uns klar gemacht haben, dass die Schnitte \(A_i \cap B\) tatsächlich disjunkt sind, können wir den Satz der totalen Wahrscheinlichkeit auch formal zeigen. Nach dem 3. Axiom von Kolmogorov gilt somit $$P(B)=P\left(\bigcup_{i=1}^n B \cap A_i \right)=\sum_{i=1}^n P(B\cap A_i)=\sum_{i=1}^n P(A_i)\cdot P_{A_i}(B)$$ Hierbei haben wir im ersten Schritt die Disjunktheit der \(B\cap A_i\) für \(i=1,...,n\) ausgenutzt und im zweiten Schritt den Produktsatz.