Das Bertrand-Paradoxon

Am Einheitskreis wird zufällig eine Sehne konstruiert. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Sehne länger ist als eine Seite des dem Kreis einbeschriebenen gleichseitigen Dreiecks?

Das Bertrand-Paradoxon (nach Joseph Bertrand, 1822 - 1900) besagt, dass diese Wahrscheinlichkeit a-priori nicht eindeutig angegeben werden kann. Sie hängt von der genauen Konstruktion der Sehne und damit vom genauen wahrscheinlichkeitstheoretischen Modell ab. Die folgenden interaktiven Grafiken illustrieren vier Methoden, eine zufällige Sehne am Einheitskreis zu konstruieren. Es gibt jedoch noch viele weitere Möglichkeiten zur Modellierung einer zufälligen Sehne.

Bei der 1. Methode verläuft die Sehne zwischen dem Punkt \((1,0)\) und einem zufälligen Punkt auf dem Kreisrand.

Zum Nachdenken

Stellen Sie in der interaktiven Grafik die Punkte P1 und P2 so ein, dass die Sehne durch den Punkt P3 genau dann länger ist als eine Seite des einbeschriebenen gleichseitigen Dreiecks, wenn sich P3 im rot eingefärbten Bereich befindet. Wie groß ist dann die geometrische Wahrscheinlichkeit des rot eingefärbten Bereichs?

Wählen wir als Sehne die Verbindung zwischen \((1,0)\) und einem zufälligen Punkt auf dem Einheitskreis, ist dieser durch seinen Winkel (gemessen im Bogenmaß) eindeutig bestimmt. Wir haben also eine Gleichverteilung auf dem Intervall \(B=(0,2\pi)\). Das gesuchte Ereignis ist das Intervall \(A=(2\pi/3,4\pi/3)\) mit der geometrischen Wahrscheinlichkeit \begin{equation*} P(A) =\frac{\text{Länge}(A\cap B)}{\text{Länge}(B)} =\frac{\text{Länge}\big((\frac{2\pi}{3},\frac{4\pi}{3})\big)}{\text{Länge}\big((0,2\pi)\big)} =\frac{\frac{2\pi}{3}}{2\pi} =\frac{1}{3}. \end{equation*}

Bei der 2. Methode liegt der Mittelpunkt der Sehne zufällig auf dem Kreisradius.

Zum Nachdenken

Stellen Sie die Punkte P1 und P2 so ein, dass die Sehne durch den Punkt P3 genau dann länger ist als eine Seite des einbeschriebenen gleichseitigen Dreiecks, wenn sich P3 im rot eingefärbten Bereich befindet. Wie groß ist dann die geometrische Wahrscheinlichkeit des rot eingefärbten Bereichs?

Wählen wir den Mittelpunkt der Sehne zufällig auf dem Radius des Kreises, haben wir eine Gleichverteilung auf dem Intervall \(B=(0,1)\). Das gesuchte Ereignis ist das Intervall \(A=(0,1/2)\) mit der geometrischen Wahrscheinlichkeit \begin{equation*} P(A) =\frac{\text{Länge}(A\cap B)}{\text{Länge}(B)} =\frac{\text{Länge}\big((0,\frac{1}{2})\big)}{\text{Länge}\big((0,1)\big)} =\frac{\frac{1}{2}}{1} =\frac{1}{2}. \end{equation*}

Bei der 3. Methode liegt der Mittelpunkt der Sehne zufällig im Kreisinneren.

Zum Nachdenken

Stellen Sie die Punkte P1 und P2 so ein, dass die Sehne durch den Punkt P3 genau dann länger ist als eine Seite des einbeschriebenen gleichseitigen Dreiecks, wenn sich P3 im rot eingefärbten Bereich befindet. Wie groß ist dann die geometrische Wahrscheinlichkeit des rot eingefärbten Bereichs?

Wählen wir den Mittelpunkt der Sehne zufällig auf der offenen Einheitskreisscheibe, haben wir eine Gleichverteilung auf der Menge \(B=\Set{(x,y)\in\mathbb{R}^2\mid x^2+y^2 < 1}\). Das gesuchte Ereignis ist die Menge \(A=\Set{(x,y)\in\mathbb{R}^2\mid x^2+y^2 < 1/2}\), also die offene Kreisscheibe mit Radius \(1/2\), mit der geometrischen Wahrscheinlichkeit \begin{equation*} P(A) =\frac{\text{Fläche}(A\cap B)}{\text{Fläche}(B)} =\frac{\text{Fläche}(\Set{(x,y)\in\mathbb{R}^2\mid x^2+y^2 < 1/2})}{\text{Fläche}(\Set{(x,y)\in\mathbb{R}^2\mid x^2+y^2 < 1})} =\frac{\frac{\pi}{4}}{\pi} =\frac{1}{4}. \end{equation*}

Bei der 4. Methode verläuft die Sehne zwischen dem Punkt \((1,0)\) und einem zufälligen Punkt im Kreisinneren.

Zum Nachdenken

Stellen Sie die Punkte P1 und P2 so ein, dass die Sehne durch den Punkt P3 genau dann länger ist als eine Seite des einbeschriebenen gleichseitigen Dreiecks, wenn sich P3 im rot eingefärbten Bereich befindet. Wie groß ist dann die geometrische Wahrscheinlichkeit des rot eingefärbten Bereichs?

Sei \(PQR\) das gestrichelt gezeichnete, gleichseitige Dreieck mit den Eckpunkten \(P=(1,0)\) und \(Q=(-1/2,\sqrt{3}/2)\) und \(R=(-1/2,-\sqrt{3}/2)\). Es hat die Kantenlänge \(a=\sqrt{3}\) und den Flächeninhalt \(A_{PQR}=a^2\sqrt{3}/4=3\sqrt{3}/4\). Die zufällig gewählte Sehne ist genau dann länger als \(a\), wenn der zufällig gewählte Punkt entweder im Inneren des Dreiecks \(PQR\) oder im Kreissektor \(S=\Set{(x,y)\in\mathbb{R}^2\mid x^2+y^2 < 1, x\leq-1/2}\) liegt. Die geometrische Wahrscheinlichkeit ist dann \begin{equation*} P(A) =\frac{A_{PQR}+\text{Fläche}(S)}{\text{Fläche}(\Set{(x,y)\in\mathbb{R}^2\mid x^2+y^2 < 1})} =\frac{A_{PQR}+\frac{1}{3}(\pi-A_{PQR})}{\pi} =\frac{2A_{PQR}+\pi}{3\pi} =\frac{3\sqrt{3}+2\pi}{6\pi} \approx0.609. \end{equation*}